Geschichte des Aerosols

CA. 15.500 V. CH.

DIE HÖHLE VON LASCAUX

DER ERSTE KÜNSTLERISCHE AEROSOL

Das Tal Montignacsur-Vézére im Département Dordogne der Region Neu-Aquitanien (Südwesten Frankreichs) hat viele Jahrtausende lang einen Schrein an Kunstschätzen unschätzbaren Werts gehütet: die Höhle von Lascaux. In den Gewölben dieses uralten natürlichen Lebensraums, der von prähistorischen Menschen aufgesucht und verziert wurde, ist eine wunderbare Reihe von Felsmalereien erhalten geblieben, die das künstlerische Empfinden und die Fähigkeiten in Hinblick auf Technik und Ausdruck der in diesem Teil Europas vor etwa 18.000 bis 17.000 Jahren lebenden Bevölkerungen bezeugen. Unter den verschiedenen verwendeten Techniken befindet sich auch das erste Beispiel der Verwendung von Aerosol zum Zweck der künstlerischen Gestaltung: dabei wurden die Farben im Mund mit dem Speichel gemischt und dann auf den Felsen gesprüht. Diese Technik muss zum Beispiel für die berühmten „Handnegative“ zum Einsatz gekommen sein, die an verschiedenen Fundstätten französischer und spanischer Parietalkunst gefunden wurden. Mit der Technik des Aufblasens der Farbe wurde aber auch ein mit Farbe gefülltes kleines Rohr aus Tierknochen verwendet: fast ein überraschender, wenn auch rustikaler und primitiver Vorläufer aus dem Paläolithikum jenes Airbrushs, der 20 Jahrtausende später, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von einer Menschheit ersonnen werden sollte, die bereits über Elektrizität, den Telegrafen und den Verbrennungsmotor verfügte. Ein weiterer Beweis dafür, dass die Intuitionen uralt gewesen sein können, doch erst die modernen heutigen Kenntnisse und Technologien zu ihre besten, rationalsten und erfindungsreichsten Entwicklungen geführt haben.

1926

erik rotheim

DER THOMAS EDISON DER SPRÜHDOSE

Derjenige, der zum „Thomas Edison der Sprühdose“ werden sollte, war zur Zeit der letzten Experimente in dieser Richtung und „ersten Schritte“ jedoch nur ein kleiner Junge, der seine unbeschwerte Kindheit in Kristiania, dem späteren Oslo, verbrachte, der skandinavischen Stadt, die Bergen als bevölkerungsreichste Metropole Norwegens erst vor kurzem den Rang abgelaufen hatte. Sein Name war Erik Rotheim. Nach dem ersten Weltkrieg sollte er zum Studium und zur Perfektionierung des Erlernten in die Schweiz gehen und zu einem jungen und tüchtigen Chemiker werden, einem Spezialisten der Elektrochemie, der jedoch vielseitige Interessen hegte. Im Oktober 1926 stellte ein gerade 28-jähriger Rotheim (1898-1938), der jedoch bereits eingehende Studien und umfassende Laborerfahrung vorzuweisen hatte, in seiner Heimat einen revolutionären Patentantrag für die erste echte Sprühdose: ein Behälter aus Metallwerkstoff, der in der Lage war, mit Hilfe eines chemischen Treibgases (Vinylchlorid, VC, bzw. Dimethylether, DME, ein Nebenprodukt der Methanolverarbeitung) und eines Ventils, das die bereits ein Vierteljahrhundert alte Intuition des Österreichers Gebauer aktualisierte und verbesserte, als Spender für Flüssigkeiten zu dienen. Der Erfindergeist Rotheims wurde von der Notwendigkeit angetrieben, eine Methode in die Tat umzusetzen, um Verbindungen für Beschichtungen zu versprühen, die er als Substanzen zum Aufsprühen von Lacken, Seifen oder Kunststoffen verwenden wollte.

1930

THOMAS MIDGLEY UND CHARLES KETTERING

DIE ERSCHAFFUNG DES FREON

Zu derselben Zeit, zu der der Norweger Rotheim sich mit allen Kräften darum bemühte, seine Geräte zu vervollkommnen, um wirksame und verwendbare Aerosole zu erhalten, erschuf der amerikanische Chemiker Thomas Midgley (1889-1944) mit der Unterstützung seines älteren Kollegen, dem Forscher und Industriellen Charles Franklin Kettering (1876-1958), in den Labors von General Motors ein neues Kältemittel:
das Dichlordifluormethan, ein Fluorcarbon geringer Toxizität, der Prototyp der Fluorchlorkohlenwasserstoffe. Es wurde unter dem Handelsnamen Freon von der DuPont in Serie hergestellt und sollte wegen seiner zahlreichen positiven Eigenschaften schnell als wichtigstes Kältemittel in Druckkühlkreisen „rekrutiert“ werden. Dieses wirksame und vielseitige farblose Syntheseprodukt mit seinem an Ether erinnernden Geruch war dazu bestimmt, zusammen mit anderen leicht zu verflüssigenden Gasen wie Propan, Butan und Isobutan, auch zu einem der wichtigsten Treibmittel für Aerosole zu werden. Bis 1989, als die internationalen Organisationen sich für sein Verbot aussprachen, da es für die Ozonschicht der Atmosphäre als schädlich erkannt worden war. Ab diesem Zeitpunkt sollte es durch Gase „der vierten Generation“ ohne schädliche Auswirkungen auf die Ozonschicht ersetzt werden: insbesondere durch für die Verwendung mit Aerosolen gereinigtes Flüssiggas, Tetrafluoroethan (HFC 134a) und in jüngster Zeit durch Tetrafluoropropen (HFO 1234ze).

1942

ddt

DER URVATER ALLER INSEKTENSPRAYS

Zu den vielen Anforderungen des Krieges zählte auch ein großer Bedarf an einem mitnehmbaren Insektenschutzmittel. Die große Nachfrage ergab sich durch die Kommandos der per Flugzeug transportierten amerikanischen Truppen, die an von Insekten verseuchten Orten wie den Inseln und Halbinseln des Pazifiks eingesetzt wurden, die schwere Krankheiten übertragen konnten, wie zum Beispiel die Mücken der Gattung Anopheles, Überträger des Sumpffiebers Malaria. Für die Deckung dieses erheblichen Bedarfs in den Reihen des Militärs sorgte die Westinghouse, die im Sommer 1942 einen Vertrag über die Lieferung von industriellen Mengen an „Aerosol“-Sprühdosen, die Treibgas und ungiftige Insektenschutzflüssigkeit enthielten, an die amerikanischen Streitkräfte ergatterte. Zwischen 1942 und 1945 sollte das Unternehmen der amerikanischen Armee und seiner Luftwaffe mehr als 30 Millionen Stück davon liefern. Doch der wahre wissenschaftliche „Vater“ dieser Anwendung, die, wie man ohne Übertreibung behaupten kann, nachdem sie Einfluss auf den Ausgang des Krieges in Asien genommen hatte, die Gewohnheiten eines Großteils der Einwohner des Planeten ändern sollte, war ein genialer Chemiker und Erfinder aus Iowa von nicht einmal 40 Jahren: Lyle Goodhue (1903-1981). Die ersten Versuche Goodhues mit Ventilen und Aerosol-Treibgasen reichten etwa 12 Jahre zurück, 1929-30, als er als junger Forscher basierend auf den Formeln der Lacke in den Labors der DuPont Chemical in Parlin, in New Jersey, begonnen hatte, sich mit der zur damaligen Zeit erst seit kurzem erfundenen und gerade erst in die Vereinigten Staaten importierten Technologie von Erik Rotheim zu beschäftigen. Seine Ausarbeitungen zu diesem Thema waren dann bis 1935 fortgesetzt worden und hatten zu einer von ihm beim Agricultural Research Center des USDA (United States Department of Agriculture) in Beltsville, Maryland, ausgeführten neuen Versuchsreihe geführt. Hier begann der überaus aktive Chemiker Anfang 1941, fieberhaft mit den Forschungen und Verbindungen von Bestandteilen und Inhaltsstoffen: im Frühling desselben Jahres testete Goodhue bereits erfolgreich seiner ersten Version der Insektenschutzmittel-Sprühdose und meldete im Anschluss daran das Patent dafür an. Der Erfolg kam zum Osterfest (13. April 1941) nach einem Test, bei dem der Chemiker probeweise von ihm hergestellten Aerosol auf ein paar Dutzend Küchenschaben sprühte. Jahre später sollte Goodhue sich dieses historischen Moments mit den folgenden Worten erinnern: „In weniger als zehn Minuten lagen alle auf dem Rücken. Niemand sonst war im Gebäude. Ich habe aus vollem Hals gebrüllt und wie wild herumgetanzt. Sobald ich mich wieder beruhigt hatte, kehrte ich wie ein Verrückter nach Hause zurück und rief Bill Sullivan und John Fales an und teilte ihnen mit großer Begeisterung die Ergebnisse des erstens Tests mit“. Diese paar Dutzend Schaben, die die von Goodhues Düse verströmte Lösung in wenigen Minuten rücklings niedergestreckt hatte, leiteten den Beginn der Ära der Sprays ein. Mit einem jungen und tüchtigen Insektenforscher an seiner Seite, der zu der Zeit die Uniform eines hohen Offiziers der amerikanischen Arme trug, William N. Sullivan (1908-1979), sollte Goodhue 1943 auch ein zweites Patent für ein verbessertes und perfektioniertes Aerosol-„Sprühgerät“ für Insektenschutzmittelmischungen ausarbeiten. Dieses von der Regierung der Vereinigten Staaten vergebene Projekt sollte faktisch der „Vorfahre“ vieler berühmter Sprayprodukte sein, die noch heute im Umlauf sind.

1948

Carl Svendsen

DAS ERSTE HAARSPRAY

1948 erfand und vertrieb die Chase Products Company, ein seit ca. 20 Jahren bestehendes Unternehmen aus Illinois, das Insektizide und Pestizide herstellte und zum damaligen Zeitpunkt von dem jungen Carl Svendsen (1923-2000) geleitet wurde, als erste Haarspray, für das ein Copolymer aus Polyvinylpyrrolidon mit anderen plastifizierenden Verbindungen und einem Treibmittel aus Kohlenstoff, Fluor und Haloalkanen gemischt wurde.

1949

EIN WEICHER AEROSOL
AUF DEN GESICHTERN DER MÄNNER

DAS ERSTE RASIERSPRAY

1948 erfand und vertrieb die Chase Products Company, ein seit ca. 20 Jahren bestehendes Unternehmen aus Illinois, das Insektizide und Pestizide herstellte und zum damaligen Zeitpunkt von dem jungen Carl Svendsen (1923-2000) geleitet wurde, als erste Haarspray, für das ein Copolymer aus Polyvinylpyrrolidon mit anderen plastifizierenden Verbindungen und einem Treibmittel aus Kohlenstoff, Fluor und Haloalkanen gemischt wurde.

1949

FARBWOLKEN

DIE LACKSPRÜHDOSEN

Ed Seymour, der Inhaber einer Lackfarbengesellschaft in Sycamore, Illinois, hielt nach einer einfachen Methode Ausschau, die Eignung seines Lacks für Aluminium für Heizkörper zu beweisen. Seine Frau schlug ihm vor, eine improvisierte Spritzpistole wie die für Deodorants zu verwenden. So mischte Seymour 1949 Lack und Aerosol in einer mit einem Sprühkopf versehenen Dose. So entdeckte er die Ergiebigkeit und Gleichmäßigkeit der so aufgetragenen Farbe und stellte die erste Lacksprühdose her.

1953

wd-40

DAS ZAUBERSPRAY, DAS SCHMIERT,
LÖST UND REINIGT

Norman Larson erfindet das multifunktionale Spray (wasserabweisend, Schmiermittel, Korrosionsschutz, Entblockung, Reinigungsmittel) WD-40, ein Produkt von überraschender Wirksamkeit und Vielseitigkeit
Nach einigen Jahren militärischen Einsatzes auf hohem Niveau bei den ersten ICBMs wird es in einigen kalifornischen Geschäften vermarktet.

1960

PARFUMWOLKEN

VON ÖLEN UND HEILSALBEN ZUM SPRAY

Unter allen klassischen Kulturen des Mittelmeerraums (Ägypter, Griechen, Phönizier, Juden, Etrusker, Römer) und den Stämmen der arabischen Halbinsel war die Verwendung von Düften auf Ölbasis, denen pflanzliche Aromen hinzugefügt wurden, um sich und öffentliche und private Räume zu deodorieren und bei Feierlichkeiten und Heiligsprechungen, weit verbreitet: allen sind Myrrhe, Weihrauch und Aloe bekannt, deren Gebrauch die Jahrhunderte überdauert hat. Einen starken Wachstumsschub erfuhr der Markt der Düfte jedoch zweifelsohne durch die Entdeckung der Kunst der Destillation, die den arabischen Wissenschaftlern zwischen der Spätantike und dem Hochmittelalter gelang. Avicenna (Ibn Sina), ein berühmter persischer Arzt, Mathematiker und Physiker, der im 10. Jahrhundert geboren wurde, entdeckte dann, wie man das berühmte „Rosenwasser“ aus den Blütenblättern der Rosa centifolia destillierte. Da jedoch Alkohol vom heiligen Buch der islamischen Welt, dem Koran, verboten war, blieben die zur Herstellung von aromatisiertem Wasser verwendeten Trägerstoffe weiterhin ölig. Erst das Wissenschaftsinstitut von Salerno, ersetzte um ca. 1000 Öl als Trägerstoff von Parfums durch Alkohol. Gegen Mitte des 20. Jahrhunderts fanden Parfums in der Erfindung (die zwischen den beiden Kriegen entwickelt, doch erst nach dem zweiten Weltkrieg verbessert und verbreitet wurde) der Sprühdose ihren wichtigsten und wirksamsten „Verbündeten“. Die praktischen und mitnehmbaren Verpackungen, die bequeme Dosierung und die erfrischende Wirkung beim Vernebeln auf der Haut sollten den Massenerfolg der Sprühbehälter von Parfums und Deodorants für Körper und Umgebung besiegeln und ihre Verwendung und ihren Markt auf den ganzen Planeten ausbreiten. Zwischen 1950 und 1960 verbreiteten sich als geeignete Alternative zu den Formaten als Creme, Salbe, Stick und Roll-on Herren- und Damen-Deosprays, die Treibgase (Fluorchlorkohlenwasserstoffe) und schweißhemmende Stoffe wie Zinkchlorid und Aluminiumsalze enthielten, und eröffneten einen noch heute breiten und blühenden Markt, wenn auch mit zahllosen Variationen in Hinblick auf Inhaltsstoffe und Produktionstechnologien.

60ER JAHRE

EIN SPRITZER AUF DIE
WÄNDE DER WELT

“GRAFFITI-WRITING” UND AEROSOL

Die ersten Writer, von denen man weiß und von denen es Zeugnisse gibt, waren wahrscheinlich (wie wir schon angedeutet haben) unbekannte Künstler, Männer und Frauen, die im Jungpaläolithikum begonnen hatten, Wände und Gewölbe in den frankokantabrischen Gebieten zu verzieren, ungefähr im heutigen Westfrankreich und Spanien. Es ist wirklich außergewöhnlich, festzustellen, wie der gleiche Drang zu Ausdruck und Kommunikation diese anonymen Künstler von vor 20.000 Jahren mit sehr viel neueren Künstlern und Bewegungen verbindet, die sogar noch am Leben und aktiv sind, während wir diese Betrachtungen verfassen. Ganz genau, die so genannten Writer, Vertreter eines vor mehr als einem halben Jahrhundert an der Ostküste der Vereinigten Staaten zwischen Philadelphia und New York entstandenen Phänomens, das dann jedoch auf alle urbanen Gebiete dieser Welt übergegriffen hat: Graffiti, ein spezifischer und von wie von selbst entstandenen Regeln durchdrungener Raum, nicht zu verwechseln mit dem breiter gefächerten und vielseitigeren Universum der Streetart, die sich zahlreicher Techniken bedient. Als Katalysator dieser besonderen Kunstform, die mit großer Sicherheit bereits in den früheren 60er Jahren entstand und nicht in den frühen 70ern wie häufig behauptet wird, diente genau die massenhafte Verbreitung von Aerosol-Lacksprühdosen, die den jungen Leuten am Stadtrand ein ideales und wirksames tragbares Gerät in die Hände gab, um Schriften verschiedener Art an den Mauern der Städte und an anderen Flächen anzubringen, die für ein mehr oder weniger großes Publikum zu sehen waren. Man weiß nicht mit Sicherheit, wann die ersten gesprühten Wandinschriften erschienen sind, doch die Position als erster moderner Writer wird einem spontanen griechisch-amerikanischen Künstler aus New York zugeschrieben, der mit TAKI 183 zeichnete und später als Dimitrios …… (1953) identifiziert wurde, ein blutjunger Einwohner des „Big Apple“ balkanischer Herkunft, der zwischen Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre eine sehr kurze Zeit lang als Graffiti-Schreiber unterwegs war. „Taki“ soll jedoch in einigen Interviews für einen anderen Graffiti-Writer gestanden haben, einen Puerto Ricaner, der im Viertel Inwood von Manhattan lebte und der sein Tag – JULIO 204 – von 1967-68, wenn nicht sogar einige Jahre früher, zu verwenden begann, der allererste in New York aktive Writer. Es ist also festzustellen, dass in Wirklichkeit die Vermarktung der ersten (von Edward Seymour erfundenen) Lacksprühdosen und die ersten Zeugnisse des Writing auf Wänden nicht mehr als 15 Jahre auseinanderlagen. Individuelle Tags, Schriften mit politischem und sozialem Charakter und territoriale Signale von Straßengangs waren die Formen des öffentlichen Sprühens, die um 1970-71 begannen, auf den Wänden von New York und Philadelphia aufzutauchen, um dann auf andere amerikanische Metropolen überzugreifen und zu einem gewissen Zeitpunkt den Atlantik und den Pazifik zu überqueren und zur Weltsprache zu werden. Der Werdegang dieser neuen Kommunikationsform war zumindest zum Teil von Situationen der Verwahrlosung und Ausgrenzung geprägt. Erst später, zwischen 1970 und 1980, sollten sich die Graffiti allmählich zu einer differenzierten Ausdrucksweise stilisieren, verschlüsselte Stilmittel verwenden und zu einer weitaus komplexeren kulturellen Erscheinung werden, die genauen Regeln folgte. Um dann „flügge“ und zu einer neuen Kunstform zu werden.

70er – 80er Jahre

VON DER VERWAHRLOSUNG
IN DIE KUNSTGALERIENS

Das Erscheinen der New Yorker Proto-Tags von Taki und dem nicht greifbaren Julio war der mit der Hip-Hop-Kultur und den „kultivierteren“ und reiferen Graffiti der 80er Jahre verbundenen Graffiti-Welle fast 15 Jahre vorausgegangen. Unter den großen Pionieren der zweiten Phase des Writings ist zweifellos auf den Namen des überaus originellen Rammellzzee (1960-2010) zu verweisen, ein vielseitiger und multimedialer Künstler gemischter afroamerikanischer und italienischer Herkunft, der im New Yorker Viertel Queens aufgewachsen war und mit seinem grafischen Werk auf dem Zug A der New Yorker U-Bahn Mitte der 70er Jahre sein Debüt gegeben hatte, das er später differenzierte und in einer ästhetischen Strömung seiner Konzeption sogar mit einer Theorie untermauerte, dem gotischen Futurismus. Aushängeschild dieser neuen Truppe an weitaus mehr an der Kunst und der breiten Nutzung anstatt der bloßen Formalisierung eines selbstbezogenen Kommunikationsstils orientierten urbanen Writern war der junge und geniale Keith Haring: mit Sprühdose bewaffnet, doch auch mit seinen in weißer und farbiger Kreide und mit Magic Marker-Stiften gemalten unverwechselbaren Figuren, konnte der überaus aktive Künstler, den es von Pennsylvania nach New York verschlagen hatte, nicht unbemerkt bleiben und verdiente sich schnell die Wertschätzung wichtiger Kritiker und Galeristen. 1982 machte ihn seine erste eigene Ausstellung, die von dem einflussreichen Galeristen Tony Shafrazi organisiert wurde, zu einem berühmten Künstler. Es sei darauf hingewiesen, dass der armenisch-angloamerikanische Shafrazi (1943) seinerseits nur acht Jahre vorher der bildende Künstler gewesen war, der zum Zweck der politischen und intellektuellen Provokation das weltberühmte Bild Guernica von Pablo Picasso mit Lackspray überzogen hatte. Alle kennen heute die einfache und eindringliche Magie der Figuren von Haring – vor allem die berühmten Radiant boys (strahlende Jungs), die stilisierten Männchen, die sich bewegten und dynamisch innerhalb der Werke ineinandersteckten – und seine „flachen“ Bilduntergründe ohne Perspektive, fast eine „offizielle“ graphische Darstellung des Geistes der frühen 80er Jahre. Haring war auch in Europa zu großer Berühmtheit gelangt, wo ihm, als er es besuchte, sein guter New Yorker Ruf vorauseilte, und wo er neue Werke geschaffen hat, von denen einige leider verloren gegangen sind. Eine nicht unähnliche Karriere führte den ihm fast gleichaltrigen Jean-Michel Basquiat mit haitianischer und puerto-rikanischer Herkunft von der Vorläufigkeit und den Überbleibseln seines Graffiti-„Duos“ (1977-1980) mit dem jungen hispanoamerikanischen Writer Al Diaz unter dem charakteristischen Akronym SAMO (SAM Old Shit, „Die gleiche alte Scheiße“) zur Selbstfindung in einem eigenen Stil, der dem von Haring in Unverwechselbarkeit und Wertschätzung der Galerien in nichts nachstand. Auch für ihn waren, neben der Freundschaft mit dem großen Guru der Pop Art, Andy Warhol, die Beziehungen zur Welt der Kritiker und Galerien ausschlaggebend. 1982 organisierte die in Amerika lebende italienische Galeristin, Kuratorin und Dozentin Annina Nosei ihm seine erste „persönliche“ Ausstellung in ihrer Galerie in SoHo. Auch die Malereien von Basquiat, entschieden Collage-style, schematisch und gewollt grob und kindlich und dazu sehr häufig durch Worte und Zitate „kontaminiert“, wurden schnell zu Ikonen auf Augenhöhe mit denen seines Freundes Haring. Man könnte also sagen, dass 1982 das Entscheidungsjahr zwischen der bahnbrechenden Phase der Streetart und der Phase darstellte, in der die Bewegung und ihre wichtigsten Vertreter als erfolgreiche Künstler anerkannt und gefeiert wurden.

1997

DAS PHÄNOMEN BANKSY

Die zeitgenössische Weiterentwicklung der Streetart blickt auf noch weitere und diversifizierte Horizonte. Nachdem sie seit nunmehr geraumer Zeit Bereiche wie die Grafik, die Computergrafik, die Illustrierung, die Mode und das Design kontaminiert hat, scheint die Streetart des ersten Viertels des dritten Jahrtausends komplexe künstlerische Ziele zu verfolgen. Weltweit bekannte Ikone der Bewegung ist in den 2010er Jahren des 21. Jahrhunderts sicherlich der (bis heute) unbekannte englische Künstler, der sich hinter dem Pseudonym Banksy verbirgt (geboren, so scheint es, 1974), der mit Straßengraffiti mit ausgeprägtem politischen und sozialen Einschlag, die sich häufig durch einen sarkastischen und paradoxen Ton auszeichnen, und mit originellen Spontanaktionen, die er überraschend in Museen und Kunstgalerien hinterlässt, überaus aktiv ist. Nach dem ersten, denkwürdigen Murales auf einer Außenmauer, das er 1997 in Bristol anfertigte, ist der unfassbare Banksy mit seinen Überraschungswerken in den westlichen Metropolen zu einem Meister der Streetart geworden und hat damit Weltruhm erreicht.